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Zum Geburtstag nach Hause
Es ist Dienstag, die heutige Wünschefahrt beginnt erst um 13.00 Uhr mit dem Treffen von Belinda und Julian am Wünschewagen. Das heißt, ich kann noch arbeiten gehen, bevor ich mich auf den Weg nach Elmshorn mache. Das heißt auch, dass meine Kolleginnen und Kollegen mich in ganz anderer Kleidung sehen, als im Normalfall. Statt mit Blazer und Pumps sitze ich mit dem Wünschewagen-Poloshirt und Jeans am Besprechungstisch.
Eine Kollegin, die ihren Mann vor zwei Jahren mit dem Wünschewagen begleitete, lächelt mir zu. Sie weiß, was diese Fahrten bedeuten, für die Fahrgäste, die Angehörigen und diejenigen, die ehrenamtlich mitfahren. Als ich mit den schweren Sicherheitsschuhen die Treppe runter poltere, um nach Elmshorn zu fahren, fragt ein Kollege mich nach der heutigen Fahrt. Ich freue mich über das Interesse und berichte von dem, was ich weiß.
„Den eigenen Geburtstag zuhause erleben“ hat Birgit, die Koordinatorin, uns per Mail mitgeteilt. Während der Fahrt zum Wünschewagen denke ich über die Bedeutung dieses Satzes nach. „Den eigenen Geburtstag zuhause erleben“ heißt in diesem Fall mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit, „den letzten Geburtstag zuhause erleben“. Ein guter Grund, ins Auto zu steigen.
Das Treffen am Wünschewagen ist herzlich. Belinda und ich haben bereits eine Fahrt miteinander begleitet. Eine sehr lange und sehr emotionale Fahrt, an die wir beide auch nach Monaten noch mit viel Gefühl denken. (Für diejenigen, die alle Wünschewagen-Berichte lesen: Es war die Fahrt mit Andi, den wir zum Fußball begleitet haben. „You´ll never walk alone“…).
Heute also ein ganz anderer Wunsch. Und ganz andere Herausforderungen. Denn damit wir die Fahrten begleiten dürfen, müssen wir einen „Vollschutz“ anlegen. Das heißt, dass wir uns nur ganz kurz wirklich sehen, bevor wir in der Schutzkleidung verschwinden. Wir geben ein extrem seltsames Bild ab: Julian ist ziemlich groß, Belinda ziemlich klein, ich irgendwo in der Mitte - gut, dass wir uns anhand der Größe auseinanderhalten können. Nach fünf Minuten stecken wir in den riesigen, weißen Overalls mit denen wir aussehen, als ob wir der Maler-Trupp wären. Oder auf der Suche nach Außerirdischen - falls wir welche finden, würden sie vermutlich freiwillig gehen. Zusammen mit den Schutzbrillen und den FFP2-Masken (ja, das sind die, unter denen man wirklich schlecht atmen kann) steigen wir schnaufend in den Wagen, um unseren Fahrgast abzuholen.
Nach 30 Minuten Fahrt erreichen wir unser erstes Ziel, das Pflegeheim, in dem Frau H., das Geburtstagskind, untergebracht ist. Sie ist eine zarte Frau, ca. 50 Kilo, die von der Krankheit schon ziemlich gezeichnet sind. Ich stelle mich vor, erkläre, dass wir sie zu ihrer Familie begleiten und sie bei uns und guten Händen ist. Sie ist apathisch, sitzt im Rollstuhl, müde und erschöpft nach den Anstrengungen des bisherigen Tages. Mit sanften und geübten Bewegungen bringt Julian sie in den Wünschewagen, Belinda fährt, ich begleite sie im hinteren Teil des Wagens.
Die Schutzkleidung und der Mundschutz machen es nicht einfacher, miteinander zu sprechen. Ich versuche, ein paar Fragen zu stellen, aber Frau H. erscheint abwesend. Sie ist in ihrer eigenen Welt, zu der ich keinen Zugang habe. Nach einigen Momenten kann ich mich auf die Stille einlassen, Kommunikation kann auch ohne Sprache stattfinden. Die Fahrt dauert nicht sehr lange, nach ca. 30 Minuten und ein bisschen Sucherei stehen wir in dem Wohngebiet, das viele Jahre das Zuhause von Frau H. und ihrer Familie war.
Wir klingeln, es ist abgesprochen, dass ihr Enkel kommt und uns hilft, seine Großmutter in die Wohnung zu bringen. 50 Kilos Körpergewicht sind sehr wenig, 50 Kilo plus einen Rollstuhl in den zweiten Stock durch ein enges Treppenhaus zu bringen, ist eine Herausforderung, Besonders, mit Schutzkleidung und Maske.
Verschwitzt und schwer atmend kommen wir in der Wohnung an, der Ehemann von Frau H. begrüßt uns an der Tür. Er ist selber schwer erkrankt, COPD, der Schlauch für sein Sauerstoffgerät ist so lang, dass er sich locker in den Zimmern bewegen kann. Während ihr Enkel Frau H. in das bereitstehende Pflegebett legt, stehen wir zwischen Küche und Flur und irgendwie immer im Weg.
Zwischen Küche, Flur und Wohnzimmer wuselt die Familie. Die Tochter, die sich bedankt, dass wir es ermöglicht haben, dass sie diesen Tag gemeinsam verbringen können. „Das wird wohl ihr letzter Geburtstag sein.“ Auch wenn es uns allen klar ist, berührt es ausgesprochen noch einmal ganz besonders. Da ändert auch die Tatsache, dass es der 79 Geburtstag ist, nichts. Weil sie eine Ehefrau, Mutter, Großmutter und Urgroßmutter ist, die sehr geliebt wird. Das wurde deutlich, als die anderen Mitglieder der Familie sich in dem kleinen Wohnzimmer verteilten.
Herr H. bietet uns Kaffee an und erzählt von früher, wie das damals war mit seiner Frau. Wie sie sich kennengelernt haben, einige Jahre „in wilder Ehe“ lebten, bevor sie geheiratet haben. Ganz heimlich war das geplant, nur mit ihren Trauzeugen, weil niemand davon wissen sollte. Dass das nicht so gut geklappt hat, weil ein Fotograf am Standesamt stand, der einen Artikel zum Thema „Ehe“ schreiben wolltet und ein Foto von ihnen gemacht hat. Dass die Nachbarn und Bekannte quasi aus der Zeitung davon erfahren haben und Geschenke vor die Tür gestellt haben. Die Familie kennt die Geschichte, hat sie vermutlich unzählige Male gehört, lächelt bei der Erzählung. Das Hochzeitsbild steht in der Vitrine, ein glückliches Paar, aufgenommen vor ca. 40 Jahren. Die Frau, die müde und apathisch im Bett liegt, ist kaum wiederzukennen. Die Ballons, die am Bettrahmen befestigt sind, die Geschenke, die in bunten Tüten auf dem Tisch stehen und ganz besonders die 7-jährige Ur-Enkelin, die an ihrem Bett sitzt und die Hand streichelt, bilden ein absolutes Kontrastprogramm.
Es ist nicht klar, ob wir stören oder ob die Familie unter sich bleiben möchte. Ich frage, ob es etwas gibt, wo wir uns die Zeit vertreiben können, wir sind in einer Gegend, in der sich niemand von uns auskennt. Und wir sind in Zeiten von Corona unterwegs, da gibt es keine Möglichkeit, irgendwo Kaffee trinken oder Essen zu gehen. Die Familie scheint sich abgesprochen zu haben und lädt uns herzlich zum Bleiben ein. Es ist eine sehr liebevolle und warmherzige Atmosphäre, die wir an diesem Tag miterleben dürfen. Wir erfahren von Urlauben, Lieblingsautos und bekommen Fotos von Hunden gezeigt. Während dieser ganzen Zeit liegt Frau H. im Bett, schläfrig, ein stiller Gast auf der eigenen Feier. Fast beiläufig wird sie berührt, ganz zart und vorsichtig, um sie nicht zu stören. Der kleine Urenkel spielt mit dem Schlauch von Herrn H.s Sauerstoffgerät, während Herr H. mir die Hausschuhe zeigt, die er seiner Frau zum Geburtstag geschenkt hat. „Sie hat doch immer so kalte Füße! Ich möchte, dass sie es warm hat"“ - und ich bin so berührt, dass ich unter meiner Maske tief atmen muss.
Wir beschließen, die Familie ein bisschen alleine zu lassen und verabschieden uns für eine Stunde, Julian fährt den Wünschewagen, besonders bei den ersten Fahrten ist es gut, das ohne Fahrgast zu üben. Nachdem wir ein bisschen durch den nieseligen Nachmittag geirrt sind, finden wir einen McDonalds. Der Wünschewagen steht vor dem leeren Restaurant, es sind mehr Mitarbeiter, als Gäste da. Die Corona-bedingten Herausforderungen begegnen uns auch hier: Um einen Kaffee und einen Hamburger zu bekommen, braucht es logistische Meisterleistungen. Es gibt diese Momente, in denen ich Menschen erzählen möchte, was mich gerade bewegt. Dass wir gerade aus einer sehr emotionalen Situation kommen - und mit unseren Gedanken gerade ganz woanders sind, als bei den komplizierten Ein- und Ausgangs-Regelungen und der Bestellung.
Mit unserem Kaffee sitzen wir im Wünschewagen und sprechen über das, was wir heute erlebt haben. Wie warmherzig und liebevoll die Familie miteinander umgegangen ist, dankbar, diesen Tag miteinander erleben zu dürfen. Aufgrund der aktuellen Situation, Corona, eigenen Erkrankungen und Entfernungen ist es nur der Tochter von Frau H. möglich, sie im Heim zu besuchen, alle anderen sehen sie heute seit längerer Zeit zum ersten Mal.
Es ist dunkel und nieselig, als wir zurückfahren. Wir zögern den Moment so lange es geht hinaus. Das Wissen, dass wir diejenigen sind, die Frau H. abholen und damit das vermutlich letzte Treffen beenden, geht uns nahe. Als wir in die Wohnung kommen, spüren wir, wie schwer der Abschied für alle sein wird. An den Helium-Ballons sind Zettel mit Wünschen für Frau H. befestigt, zum Geburtstag - und für ihren Weg in den Himmel. Die Ur-Enkelin, die so liebevoll ihre Hand gehalten hat, hat Herzchen gemalt. Die gesamte Familie begleitet uns zum Wünschewagen, Frau H. im Rollstuhl, mit den neuen Hausschuhen an den Füßen. Wir bereiten den Wünschewagen für die Rückfahrt vor, holen eine Decke für Frau H., damit sie den Abschied mit ihrer Familie genießen kann. Der Moment, als die Ballons mit den Wünschen in den Himmel geschickt werden, die Angehörigen sich von ihr verabschieden und sich noch einmal bei uns bedanken, ist schwer. In den letzten Stunden waren wir diesen Menschen nahe, jetzt nehmen wir ihnen etwas sehr Liebes - auch, wenn total klar ist, dass wir fahren müssen. Mir geht besonders das Weinen der kleinen Ur-Enkelin nahe, ihr Bruder ist noch zu klein, um die Situation zu verstehen, aber sie spürt sehr genau, dass dieser Abschied für immer ist. Belinda spricht kurz mit ihr, während ich der Familie sage, dass wir jetzt fahren. Das kleine Wünschewagen-Bärchen, das wir den Fahrgästen schenken, bekommt heute die Ur-Enkelin zur Erinnerung an diesen Tag. Sie hält ihn ganz fest, während sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischt. Julian ist der ruhende Pol in dieser Situation, er tut uns allen gut mit seiner Gelassenheit.
Auf der Rückfahrt sucht Frau H. meinen Blick und meine Hand. Sie spricht nicht, ich fühle mich ihr verbunden, während wir uns dem Heim nähern. Julian und Belinda haben die Rückseite des Wünschewagen geöffnet, Frau H. im Rollstuhl, möchte meine Hand nicht loslassen. Ich versuche, über die Rampe auszusteigen, ohne über Overall, Füße oder Rollstuhl zu stolpern. Es ist dunkel, im Heim ist bereits der Nachtdienst aktiv. Der Pfleger begrüßt uns und besonders Frau H. sehr freundlich. Wir verabschieden uns, bedanken uns, dass wir diesen Tag mit ihr verbringen durften und ich glaube sie spürt, dass wir das ganz ehrlich meinen. Zurück im Wünschewagen sehe ich die Tüte mit den Geburtstagsgeschenken und laufe noch einmal zurück. Der Pfleger ist bereits mit ihr unterwegs, jetzt ist sie wieder in den Abläufen des Pflegeheims angekommen und wird in ihr Zimmer gebracht. Ich hätte sie gerne noch einmal gesehen und ihre Hand gestreichelt.
Die Rückfahrt nach Elmshorn ist ruhig, wir sind alle in unseren Gedanken. Manchmal braucht es nach den Fahrten einen Moment, bis man wieder „im richtigen Leben“ ankommt. Mit diesem Gefühl verabschieden wir uns voneinander, es ist gar nicht nötig, viel zu sagen. Den Overall ziehe ich erst Zuhause aus, für mich ist das der Abschluss dieses Tages. Als ich die Sicherheitsschuhe ins Regal stelle, denke ich noch einmal an Frau H.
Ihre kleine Ur-Enkelin war sich sicher, dass sie in den Himmel kommen wird. Und ich bin mir sicher, dass sie dort warme Füße hat, mit den Hausschuhen, die ihr mit so viel Liebe geschenkt wurden.
Tinka Beller