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Marita nimmt Abschied
28-12-2021
23.12. - der Tag vor Heilig Abend, die Welt sieht ziemlich friedlich aus. Auf jeden Fall jetzt, um sieben Uhr morgens. Ich habe meine Brotdose und einen Becher mit Tee im Auto und denke. Ich mag es, diese Zeit vor und nach einer Wünschefahrt zu haben. Die Welt scheint noch ein bisschen verschlafen, es ist dunkel und niemand stört mich beim Denken. Bis auf das Autoradio, das in regelmäßigen Abständen: „Driving home for christmas“ spielt. Ich bin nicht auf dem Weg nach Hause. Und Marita (die wie alle anderen tatsächlich einen anderen Namen hat), unser heutiger Fahrgast, auch nicht. Denn Marita möchte Abschied nehmen. Von Jochen. Ihrem Mann, mit dem sie seit 1965 verheiratet war.
Das sind fünf Jahr mehr, als ich auf der Welt bin. Das ist sehr, sehr lang. Und ich kann mir nicht vorstellen, wie es ihr gehen wird. Gesche, die älteste Tochter, hat alles versucht, damit sie gemeinsam als Familie die Beisetzung gestalten können. Trotz Corona und ganz besonders trotz aller Einschränkungen von Marita. Keine Chance, dass sie an der Beisetzung teilnehmen kann. Nicht so, mit Transport im Liegen und der Bestattung im Friedwald. Gesche als Krankenschwester weiß das und versucht, einen Transport zu organisieren. Marita wohnt in Hamburg, aber der Hamburger Wünschewagen ist heute schon unterwegs, deswegen kommen Belinda und ich aus Schleswig-Holstein. Wir sind schon häufig zusammen gefahren und mögen uns, ich freue mich sehr, dass wir diese Fahrt zusammen machen können.
Gesche erzählt und wir erfahren ein bisschen über Marita. Dass sie ihren Mann Jochen mit 16 Jahren kennengelernt hat. Und sie ziemlich glücklich miteinander waren. So glücklich, dass sie vor einigen Monaten gemeinsam in eine Pflegeeinrichtung gezogen sind. Es ging lange gut Zuhause, sehr lange. Trotz Maritas Krankheit, MS, schleichend, aber unaufhaltsam und seit vielen Jahren Teil ihres Alltags. Er hat sie gepflegt, so gut er es konnte. Einen Lehrgang für pflegende Angehörige gemacht, damit er alles richtig macht, ihr nicht wehtut, beim Lagern, als sie sich nicht mehr ganz selbständig bewegen konnte. Jetzt kann sie gar nichts mehr bewegen, ihr Körper ist gelähmt, vom Hals abwärts. Liebe und Fürsorge werden immer wieder deutlich, wenn Gesche Sätze sagt wie: „Papa hat sich immer gut gekümmert, er hat immer für alles gesorgt.“ Drei Töchter haben einen liebevollen Vater verloren, Marita ihren Mann. Umso wichtiger, dass sie es heute die Beisetzung gibt.
Sie konnten sich nicht verabschieden. Weil niemand damit gerechnet hat, dass er sterben wird. Vor ein paar Wochen, als er wegen einer Kleinigkeit ins Krankenhaus musste. Ein Routineeingriff, nix Aufregendes. „Ungeklärte Todesursache“ hieß es, als er am nächsten Tag tot und mit gefalteten Händen im Krankenhausbett lag. Marita kam nicht ins Bestattungsinstitut, Gesche hat Fotos vom offenen Sarg geschickt. Jochen, mit einer Mütze, die er auch im Haus oft getragen hat. Und seinem Lieblingsfoto von Marita, das er immer bei sich hatte. Sie ist sehr, sehr jung auf dem Foto. Und sehr schön. Ihre lebendigen Augen können so viel sagen, auch wenn das Sprechen anstrengend wird. Das merke ich, als Belinda und ich in Ihrem kleinen Zimmer stehen und versuchen, an alles zu denken, was wir für die nächsten Stunden brauchen werden. Sie lacht, als ich ihr meinen Namen sage und wiederholt ihn. Ich berühre ganz sanft ihre Wange, der einzige Teil ihres Körpers, an dem sie etwas fühlt.
Die Fahrt zum Friedwald ist relativ kurz, ich bin mit Marita und Gesche hinten im Wünschewagen. Marita fällt das Sprechen schwer, aber ihre Gedanken sind ganz klar. Sie möchte keine Schokolade, sie möchte MonChéri. Ich muss lachen, haben wir leider nicht dabei, gebe ich an die Koordination weiter. Wir sprechen über den heutigen Tag und das, was wir tun können, damit es gelingt.
Belinda ist kritisch, was die Trage und den Waldboden angeht und parkt den Wünschewagen so dicht am Waldrand, wie es geht.
Es ist eine Herausforderung Marita samt Trage zum richtigen Ort zu bringen. Es heißt nicht umsonst FriedWALD, es ist schon zu Fuß nicht einfach zu erreichen. Die anderen Gäste sind zum Teil etwas älter und ebenfalls auf Hilfe angewiesen. Wir sind eine seltsame, kleine Trauergruppe, die sich auf den Weg macht. Marita auf der Trage, und alle, die können, helfen mit, sie zu dem Ort zu tragen, wo die Zeremonie stattfinden wird. Warm eingepackt liegt sie vor dem Altar, den die Bestatterin liebevoll geschmückt hat. Neben der Urne steht ein großes Foto von Jochen, Marita sieht es die ganze Zeit an, während die Pastorin spricht. Wir, Belinda und ich, kennen den Mann nicht, von dem hier Abschied genommen wird. Genauso wie den Großteil der Anwesenden, die wir vermutlich nach diesem Tag nie wieder sehen werden. Wir stehen etwas außerhalb, so dass wir Marita im Blick haben, aber nicht stören. Als wir „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ singen, fühlt es sich wie etwas Gemeinsames an, so, als ob wir alle zusammen gehören.
Die liebevoll bemalte Urne wird Marita noch einmal gezeigt. Sie kann sie nicht berühren, nur ansehen. Genauso wenig, wie sie sich direkt an der Grabstelle verabschieden kann, an der die anderen Gäste Erde und Rosenblätter streuen. Ich nehme zwei Hände der Blüten, halte sie vor Marita und frage, ob ich das für sie machen soll. Es fühlt sich richtig an, als ich die bunten Blätter in das dunkle Erdloch werfe und sage, dass sie von Marita kommen.
Die Pastorin, die eine weiße Mütze mit einem Bommel und unter ihrem Talar eine dicke Winterjacke trägt, aus der die Kapuze herauslugt, spricht noch ein paar Worte. Ich bin fasziniert von der Situation, der Liebe und Würde, die wir wahrnehmen dürfen. Der Weg zurück zum Wagen ist ein wunderschönes Symbol dafür: Alle möchten helfen, Marita, die wie eine schweigsame Königin auf der Trage liegt, zu begleiten. „Wenn der Weg zu schwierig ist, werden wir dich tragen.“ habe ich vorher im Spaß zu ihr gesagt. Sie ist in die Wünschewagen-Decke voller Sterne eingekuschelt, ich habe noch Rosenblätter darüber gestreut und wir tragen sie wie eine ägyptische Königin auf ihrer Sänfte. Sie sieht entspannt aus, vertraut uns, dass wir sie über den unwegsamen Boden sicher zurück bringen. Als ihr Bruder am Wagen noch kurz ihre Füße berührt und sich mit einem norddeutsch-herzlichen „Tschüß, min Deern!“ verabschiedet, muss ich kurz schlucken, weil es mich so berührt.
Wir fahren direkt zurück in die Einrichtung, es war anstrengend und Marita ist müde. Belinda fährt, kurzer Zwischenstopp am Supermarkt, um eine Packung MonChéri für Marita zu besorgen. Es fängt an zu schneien, ein besseres Timing hätten wir uns nicht wünschen können. Zurück im Zimmer legen wir sie mit vielen Händen sorgsam zurück in ihr Bett, und ziehen vorsichtig alles aus, was sie nicht mehr braucht. Das Foto von Jochen steht auf dem Tisch, die Rosenblütenbätter von der Bettdecke direkt davor. Es sieht schön aus und Marita kann es direkt sehen, wenn sie den Kopf ein bisschen dreht. Wir verabschieden uns, immer ein besonderer Moment für alle, auch diesmal. Ich bin erstaunt, wie warm Maritas Hände sind und halte sie einen Moment fest. Ich habe keine Handschuhe getragen, meine sind viel kälter. Vielleicht gibt es kein besseres Bild, um Wünschefahrten zu erklären. Wir schenken unsere Zeit und Expertise - und bekommen sehr viel Wärme zurück.
Als Belinda und ich den Wünschewagen abgestellt und uns verabschiedet haben, ist der Schneefall stärker geworden. Die Straßen sind glatt, meine Fahrt nach Hause dauert vier Stunden. Viel Zeit, um über die Begegnungen des heutigen Tages nachzudenken. Wir durften Teil eines sehr persönlichen Abschieds sein, Gesche hat sich herzlich bei uns bedankt, wie wären die „Wünschewagen-Engel“, ohne uns wäre es ihrer Mutter nicht möglich gewesen, sich von ihrem Mann zu verabschieden. Im Radio läuft „Driving home for christmas“ und ich denke an Marita. Sie wird Weihnachten nicht mit ihrer Familie verbringen. Ich auch nicht. Weil die Menschen, die mir viel bedeuten in einer anderen Stadt oder auf einem anderen Kontinent leben oder wir aus anderen Gründen nicht beieinander sein können. In meinem Herzen und meinen Gedanken sind sie bei mir. Ich denke an Marita und daran, wie sehr sie und ihr Mann sich geliebt haben. Was für ein Geschenk. Und ein Geschenk für uns, dass wir heute dabei sein durften.
Tinka Beller